Stefan Brender

DER    FAHRENDE    GAUKLER
Abiturjahrgang 1986

Pedro Obiera

Ich habe Stefan Brender als intelligenten, sensiblen, musikalischen und kreativen Schüler erlebt. Auch als einen selbstbewussten jungen Mann, der dem institutionalisierten Lernen, wie es zu einer Schule gehört, misstrauisch gegenüberstand. Schließlich ist ein städtisches Gymnasium formal eine „Anstalt des öffentlichen Rechts“ mit teilweise starren bürokratischen Strukturen. Einfach und konfliktfrei verlief die Schulzeit Stefans nicht. Obwohl ihm die Anforderungen keine sonderlichen Probleme bereiteten, musste seine Mutter erhebliche Überzeugungsarbeit leisten, um ihn von einem vorzeitigen Abbruch der Schullaufbahn abzubringen.
Und nicht nur die Schule stieß bei Stefan Brender auf heftige Skepsis. Mit dem ausgeprägten materialistischen Denken und Handeln in unserer Zeit ohne Rücksicht auf Mitmenschen, andere Völker und die Umwelt setzte er sich die gesamte Schulzeit hindurch auseinander. So stand früh für ihn fest, dass eine gewöhnliche „bürgerliche“ Karriere mit Studium und möglichst hohem Einkommen und Lebensstandard nicht in Frage kommen könne.
So legte er 1986 sein Abitur ab, um sich gleich darauf auf ein Leben jenseits gewöhnlicher Formen einzurichten. Er verwirklichte seinen Traum von einem kleinen Wanderzirkus, mit dem er durch Europa reisen konnte, ohne Tierdressuren und ohne den Glanz der großen Zirkus-Unternehmen. Umgebaute Bau- und selbstgebaute Planwagen, von Pferden gezogen, wurden fortan das Heim Stefan Brenders. Und dieser Philosophie ist er bis heute treu geblieben. Auch mit seiner Partnerin Petra und insgesamt sechs Kindern.
Auto, Telefon, Handy, Fernsehen und Internet haben in seinem Leben keinen Platz, auch wenn die erwachsenen Kinder mittlerweile eigene Wege gehen und auf „bürgerlichen“ Komfort nicht so konsequent verzichten. Wenn er für längere Zeit Quartier macht – in Italien, Sardinien oder wie derzeit in Ungarn – versucht er sich möglichst umweltschonend zu versorgen. Er kocht meist auf offenem Feuer, wäscht mit aus Asche gewonnener Lauge und spült das Geschirr mit Molke, die bei der Herstellung von Ziegenkäse abfällt. Er und seine Reisegenossen malen das Getreide mit der Handmühle, backen ihr Brot selbst, mixen Tinkturen und Salben gegen Wehwehchen und beziehen ihr Wasser sogar im Wintercamp aus einem Ziehbrunnen. Und auch den Strom produzieren sie aus Solar- und Windenergie selbst.
Mit seinem „Zirkus Soluna“ (Sonne – Mond) zieht er durch Dörfer, stellt eine Sitztribüne im Halbkreis auf, stellt die Wa gen zurecht und verbreitet eine Zirkusluft, wie man sie aus alten Filmen kennt. Mit Clownerien, Jonglierkünsten, Drahtseilartistik, Trapezdarbietungen und viel Musik erfreut er die Dorfbewohner und nimmt ein wenig Geld ein, das für ein Leben nach seinen Vorstellungen ausreicht. Das Klavier, mit dem Stefan sein alternatives Leben als Straßenmusiker begann, wird von einem Wagen aus gespielt. Und jedes Jahr schreiben Petra und Stefan ein neues zusammenhängendes Theaterstück, das zeit- und vor allem umweltkritische Themen einbindet.
Die Freiheit, die mit seinem Leben verbunden ist, hat allerdings nichts mit Abenteuerromantik zu tun. Schließlich stößt seine Philosophie nicht überall auf Gegenliebe. Das bekommt er bei Grenzübertritten und beim Lagern zu spüren, wenn er auf Behörden angewiesen ist, die ihn nicht immer zuvorkommend behandeln.
Für verwöhnte Städter mag dieses Leben beschwerlich, vielleicht sogar unvorstellbar erscheinen. Die tägliche Arbeit zum Lebenunterhalt und die Auftritte mit dem Zirkus genießt Stefan Brender allerdings um so mehr, je intensiver er spürt, wie „krank diese Zivilisation doch ist“ und wie viele „schrecklich unzufriedene Menschen“ er antrifft.
Die Suche nach alternativen Lebensformen gegenüber den desaströsen Missbildungen unserer materialistisch orientierten Gesellschaft führt uns zurück in die Schulzeit von Stefan Brender. Schon damals fühlte er sich auf der Schafkoppel von Wolfram Overdick wohler als im Klassenzimmer und übernachtete auch gern im Schäferwagen. An der Zitadelle interessierten ihn die Wandel- und Kellergänge, die er gern durchstreifte. Und wenn Demonstrationen in Wackersdorf angesagt waren, hatten die Priorität vor jeder Abiturvorbereitung.
Er erinnert sich noch an etliche Lehrer, mit denen er bisweilen aneinandergeriet. Allerdings scheint die Mehrzahl von ihnen die Konsequenz, mit der Stefan seine Lebensphilosophie verteidigte und umsetzte, mehr oder weniger offen mit einiger Sympathie betrachtet zu haben, so dass er keineswegs mit Frust oder gar Hass auf seine Schulzeit zurückblickt. Selbst das Praktikum im Forschungszentrum, bei dem die Schädlichkeit von Pflanzenschutzmitteln untersucht wurde, öffnete seinen Horizont und bestärkte ihn in seinem Vorsatz, sein Leben mit anderen Vorgaben und Zielen zu gestalten als das der überwiegenden Mitschüler und Lehrer.
Somit kann er ein Resümee ziehen, das nicht jeder seiner noch so „erfolgreichen“ Mitmenschen von sich behaupten kann: „Weil ich fast nur unzufriedene Menschen treffe, wundere ich mich immer wieder, wie froh ich bin!“