Anna Struwe

Zum Tode

der „First Lady”

in der Männerwelt des Staatlichen Gymnasiums

Ein Nachruf von Wolfgang Gunia

Hoch betagt im Alter von 97 Jahren starb Anna Struwe – von den meisten wurde sie liebevoll aber nur „Anni” genannt – am 3. Februar 2008 in ihrer Heimat in Essen. Geboren am 11.Januar 1911 in Dortmund, wo sie auch 1931 ihr Abitur machte, begann sie nach dem Studium in Bonn und Münster – sie studierte die Fächer Erdkunde, Mathematik und Physik- ihre Lehrerlaufbahn ebenfalls im Ruhrgebiet, und zwar an der Staatlichen Oberschule für Mädchen in Oberhausen und an der Luisenschule in Essen. Erst im Kriege verschlug es die Studienassessorin ins Rheinland, und zwar nach Jülich und Geilenkirchen, wo sie bis März 1944 an der damals Staatlichen Oberschule für Mädchen ( bis 1940 und wieder ab 1945 Mädchengymnasium Jülich) tätig war, danach bis zum 25.11.1945 an der Staatlichen Oberschule für Mädchen in Geilenkirchen, als in Jülich in Folge des Krieges und der Zerstörungen die Schulen bereits geschlossen waren. Als nach Kriegsende das Jülicher Gymnasium wieder eröffnet wurde, kehrte sie am 26.11.1945 nach Jülich zurück, und zwar an das Staatliche Gymnasium. Gleichzeitig unterrichtete sie aber auch am wieder eröffneten Mädchengymnasium.

Frau Struwe war also eine Frau der „ersten Stunde”, die unter schwersten Bedingungen in teilweise zerstörten und unzureichend möblierten Räumen, weitgehend ohne Unterrichtsmaterial, im heutigen Westgebäude und im Mädchengymnasium versuchte, einen halbwegs normalen Unterrichtsbetrieb aufzubauen. Es war auch etwas Besonderes, dass eine Frau an einer Jungenschule arbeitete. (Die Koedukation der ersten Nachkriegsjahre endete nach kurzer Zeit 1951, als das Mädchengymnasium wieder eine Oberstufe bekam.)

Im Lehrerkollegium des Staatlichen Gymnasiums war sie zunächst die einzige Frau.

Auch für Frau Struwe war  diese Männerwelt ungewohnt. Es gibt aber zahlreiche Belege dafür, dass die junge Frau sowohl bei den Schülern als auch bei den männlichen Kollegen akzeptiert und hoch geachtet wurde.

Zwei Zitate mögen dies belegen: Schulleiter Dr. Cramer äußerte sich in einem Gutachten an das Schulkollegium, das zur Beförderung von Frau Struwe vorgelegt werden musste, folgendermaßen (Personalakte, Schularchiv): „Dabei ist Frau Struwe bei ihren Schülern allgemein beliebt, weil sie gerecht ist. Auf unsere manchmal etwas derben Landjungen wirkt ihre feine Weiblichkeit besänftigend, so daß disziplinarische Schwierigkeiten nie aufgetreten sind. Die älteren Schüler aber achten und verehren in ihr die stets vornehme Dame, die auch durch ihre dezente, aber moderne Kleidung auf einen heranwachsenden Jüngling unbewußt Eindruck macht.  Ihr liebenswürdiges, echt weibliches und ausgleichendes Wesen hat sie uns allen zu einer lieben Kollegin gemacht…” Das klingt fast wie eine versteckte Liebeserklärung, was da der Direktor in einem dienstlichen Gutachten schreibt.

Schüler können sich da in ihren Kommentaren noch deutlicher äußern: Von Hans Ribbeck, einem Augenzeugen unter den Schülern und Abiturienten (*Abiturientia Juliacensis 1958, zusammengestellt von Hans Ribbeck zum Goldenen Abitur 2008, S. 154/155), wurden einige Äußerungen aufgenommen, die sich weitgehend mit den Ausführungen des Schulleiters decken:

„Sie war eine feine Frau, eine von den Lehrerinnen, die den Wert eines Schülers nicht danach bemaß, ob dieser nun gut oder schlecht in Mathematik, Geographie oder Physik war.  Wir hatten alle das Gefühl, dass sie uns mochte …. Und wir mochten sie. Ich glaube, wir mochten sie nicht nur als Lehrerin, sondern ganz einfach als Mensch und als Frau. Sie war immer gepflegt, war stets modisch gekleidet und achtete auf ihr äußeres Erscheinungsbild. Im Unterricht wurde sie nie laut .… Sie hat nie jemanden von uns vor der Klasse bloßgestellt …. Sie hatte ein Herz für Schüler…. Ich glaube, wir alle haben unserem Ännchen sehr viel zu verdanken.”

Anna Struwe unterrichtete am Jülicher Gymnasium die Fächer Mathematik, Physik und Erdkunde. Ihre weitere Lehrbefähigung „Hauswirtschaft”, die sie in der Zeit von 1939/1940 zusätzlich erwarb, war hingegen nicht gefragt. Den weitaus größten Teil ihrer Dienstzeit als Lehrerin verbrachte sie in Jülich und konnte bei ihrem Eintritt in den Ruhestand auf 28 Jahre Tätigkeit am Jülicher Gymnasium zurückblicken, nämlich von 1945 bis 1973. Wie schleppend Beförderungen auch bei einer so hoch qualifizierten Lehrerin in der damaligen Zeit erfolgten, mögen die folgenden Daten deutlich machen: 1937-1939 war Frau Struwe Studienreferendarin, von 1940 bis 1948 Assessorin und erhielt erst 1948 nach acht Jahren die Ernennung zur Studienrätin und damit eine Planstelle und ihre Verbeamtung auf Lebenszeit. Wieder dauerte es 10 Jahre bis zur Beförderung zur Oberstudienrätin. (1958) Als Anfang der 70er Jahre an Gymnasien in NRW Planstellen für Pädagogische Fachleiter – Studiendirektorenstellen – eingerichtet wurden, war sie eine der ersten, die befördert wurden. Am 1.12.1970 erhielt sie ihre Ernennung zur Studiendirektorin als pädagogische Fachleiterin mit dem Aufgabenbereich Mathematik und Physik.

Ihrer fachlichen Qualifikation zollte Fachkollege Cornelius Tropartz in einem Beitrag in der Zitadelle 8 ( 1974, S.11), den er zu ihrer  Pensionierung verfasste, höchste Anerkennung und Lob. Hören wir ihn selbst: „Ihren wissenschaftlich geschulten Verstand gebrauchte sie kühl und frei von Emotionen. In der Beurteilung von Personen und Sachen, objektiv und unbestechlich…. Deshalb genoß sie die Hochachtung und Wertschätzung ausnahmslos aller Kollegen”. Dieses Vertrauen des Lehrerkollegiums  kam auch darin zum Ausdruck, dass sie über viele  Jahre immer wieder in den Lehrerrat gewählt wurde.

Der Beruf füllte sie voll aus und man merkte ihr an, dass er ihr Freude machte. In den Ferien unternahm  sie ausgedehnte Reisen, aber nicht Strandurlaub und Faulenzerurlaub, sondern „weite Bildungsreisen führten sie in andere Länder und Kontinente”. (Ribbeck, S.151) Diese Reisen dienten der Allgemeinbildung, halfen aber auch der Erdkundelehrerin. Zusätzlich nahm sie aber auch – wie ihre Personalakte ausweist – an speziellen direkt berufsbezogenen Fortbildungsmaßnahmen teil, z.B. an einem Seminar zum Thema „Die Europäisierung und Enteuropäisierung der Erde am Beispiel Afrikas” (1964) und im gleichen Jahr folgte ein Seminar „Zur Didaktik und Methodik der Gemeinschaftskunde”.

Seit 1973 war sie Pensionärin. Zwar behielt sie guten Kontakt zu Jülich, kehrte aber doch in ihre Heimat, ins Ruhrgebiet nach Essen, zurück und konnte dort einen langen Ruhestand von 25 Jahren genießen. Sie, die nie verheiratet war, lebte dort mit ihrer einige Jahre jüngeren  Schwester zusammen.