Dr. Wilhelm Hoeres – Ein preußischer Karriere-Beamter

Im Heimatkalender des Kreises Jülich von 1953 erzählt Wilhelm Bers, von seiner frühen Schulzeit am Jülicher Progymnasium, das ab 1902 zur vollgültigen Schule mit Abitur erhoben wurde. Bers gehörte 1908 zum vierten Abitur-Jahrgang der Schule. Seine Darstellung beginnt im Jahre 1897, im ersten Jahr nach der fünfunddreißigjährigen Tätigkeit Joseph Kuhls als Leiter der Schule. Bers schreibt: „Direktor war damals Dr. Emanuel Hoeres, eine Hünengestalt mit mächtiger Stimme – wenn es nötig war – aber ein grundgütiger Mensch, ein Edelmann vom Kopf bis zu den Füßen. Er blieb nur kurze Zeit in Jülich, wurde dann Provinzialschulrat in Osabrück und kehrte später ins Oberschulkollegium Koblenz ins Rheinland zurück, wo er vor einigen Jahren gestorben ist – auch betrauert von den höheren Schulen der Provinz, die unter ihm standen.“ Das ist der einzige Satz zu Charakter und Aussehen dieses Schulleiters, den der Verfasser dieser Biografie auffinden konnte. Die Personalakte dieses Direktors befindet sich im Landeshauptarchiv Rheinland-Pfalz in Koblenz unter der Sigle 403, 17197 und kann dort jederzeit eingesehen werden, was dem nicht mehr jungen Verfasser dieses Aufsatzes unter tatkräftiger Mithilfe seines Enkels im Oktober 2022 gelungen ist.

Im ersten von Hoeres selbst verantworteten Jahresbericht des »Städtischen Progymnasiums« Jülich »mit Königlichem Kompatronat« »über das Schuljahr 1897/98« nennt er unter »III Chronik der Anstalt« selbst in der entsprechend bescheidenen Weise eines preußischen Beamten in einer Anmerkung auf S.8 einige Daten aus seinem Lebenslauf: „Nach herkömmlichem Brauche sei einiges aus dem Lebensgange [des neuen Direktors] mitgeteilt: Wilhelm Emanuel Hoeres, geb. am 25.August 1859 zu Stadt Holzappel, Regierungsbezirk Wiesbaden, besuchte das Gymnasium zu Hadamar, studierte in Münster, Berlin und Leipzig, promovierte 1882, bestand am 12. Januar 1884 die Staatsprüfung, genügte seiner Militärpflicht beim 65sten Infanterieregiment in Köln, erledigte das Probejahr von Ostern 1885 ab am Kaiser-Wilhelm-Gymnasium in Köln, wirkte dann als kommissarischer Lehrer an der Realschule in Hechingen, an dem königlichen Gymnasium in Bonn und seit Neujahr 1889 als Oberlehrer am städtischen Gymnasium und Realgymnasium in Köln. Im März 1897 wurde er vom Kuratorium des Progymnasiums (Jülich) einstimmig zum Direktor gewählt, und die Wahl wurde von Sr. Majestät durch Allerhöchste Kabinettsordre vom 20. April 1897 bestätigt.“ So stellt sich in wenigen Worten die Bilderbuch-Karriere eines Mannes dar, die in Jülich keineswegs ihr Ende finden sollte.

Hoeres war siebenunddreißig Jahre alt, als er in Jülich die Leitung des Progymnasiums übernahm. Nach den Unterrichtsverteilungen in den Jahresberichten des Jülicher Gymnasiums zwischen 1897 und 1901 unterrichtete Hoeres in den Fächern Deutsch, Latein, Geschichte (mit Erdkunde) und Griechisch. Diese Angaben werden in seinem Prüfungszeugnis bestätigt und genauer definiert. Dort steht: „Demnach hat Candidat die Befähigung zu unterrichten erworben in der Geschichte und in der Geographie für alle Classen des Gymnasiums, im Lateinischen für die unteren und mittleren Classen mit Ausschluss von Untersekunda), im Griechischen für die mittleren Classen (einschließlich Untersekunda), im Deutschen für alle Classen.“

Seine Dissertation schrieb Hoeres 1882 in Leipzig. Sie trägt den Titel: „Das Bistum Cambrai: seine politischen und kirchlichen Beziehungen zu Deutschland, Frankreich und Flandern und Entwicklung der Commune von Cambrai; von 1092-1191. Da war Hoeres gerade einmal dreiundzwanzig Jahre alt.

Die Einstimmigkeit seiner Wahl in Jülich am 17.03.1897 weist ihn wohl als für das Amt besonders geeignet aus. So jedenfalls berichtet es Bürgermeister Hochstenbach (1844-1899, Bgm in Jülich 1884-1899) am 18.03.1897 an das Provinzialschulkollegium in Koblenz: „In Verfolg unseres Berichtes vom 12. dM [des Monats…] legen wir hiermit Ausfertigung der gestrigen Verhandlung vor, wonach wir den Oberlehrer Dr. Wilhelm Emanuel Hoeres […] einstimmig zum Direktor des hiesigen Progymnasiums gewählt haben. Der Gewählte, welchem ein guter Ruf als Lehrer vorangeht, ist uns als geeigneter Leiter und Repräsentant einer Anstalt von mehreren vertrauenswürdigen Seiten geschildert worden, er ist Reserve-Offizier, was für die hiesigen Verhältnisse auch zweckmäßig erscheint.“ Der letzte Satz weist darauf hin, dass Jülich auch am Ende des 19. Jahrhunderts noch Garnisonstadt war und das Militär noch erheblichen Einfluss auf die städtische Gesellschaft ausübte.

Wenige Tage vor der Wahl des neuen Direktors hatte das Kuratorium noch einen „Erpressungsversuch“ gegenüber dem Schulkollegium gestartet. Schon jahrelang hatte sich die Stadt ohne Erfolg um die Verstaatlichung der Schule bemüht, und versuchte nun, die Wahl des neuen Direktors, mit ihrem Anliegen der Verstaatlichung zu verquicken. So geht am 12.03.1897 ein Schreiben mit der Unterschrift des Bürgermeisters an das Provinzialschulkollegium, in dem es heißt: „Das Kuratorium hat in seiner heutigen Sitzung beschlossen, die Wahl eines neuen Direktors zu vertagen bis nach Eingang der Entscheidung über den Antrag der Verstaatlichung des Progymnasiums. Das Kuratorium wurde hierbei von der Ansicht geleitet, daß im Falle der Verstaatlichung der Anstalt bei der Wahl des Direktors billigerweise die Wünsche der Schulbehörde berücksichtigt werden müssen, im Falle der Nichtverstaatlichung aber Kuratorium nicht umhin könne, demjenigen Mann den Vorzug zu geben, von dessen Leitung es sich die stärkste Prägung der Anstalt versprechen könne. Bei dem Umstande, daß aber eine baldige Wiederbesetzung der Stelle im Interesse der Anstalt liegt, bitten wir, höheren Orts dahin wirken zu wollen, daß die Entscheidung des Finanzministers recht bald erfolge.“ Auf den Rand dieses Briefes hat beim Schulkollegium jemand geschrieben: „Die sonderbare Alternative ist dem Kur. und uns zum Glück erspart geblieben. Die Wahl hat inzwischen stattgefunden. Gegenwärtiges geht daher zu den Akten.“ Ob die Erpressung gefruchtet hat, lässt sich aus der verschrobenen Mitteilung des Bürgermeisters vom 17.03.1897 an das Kuratorium nur erahnen. Sie ermöglicht aber dem Bürgermeister und dem Kuratorium „Gesichtswahrung“: „In Verfolg des Beschlusses vom 12. Dm (des Monats) theilt Vorsitzender dem Kuratorium das ihm gestern zugegangene Privatschreiben des Geheimen Ober-Finanzraths Herrn Germar vom 15. des Mts mit, wonach dieser zu der Mittheilung ermächtigt ist, daß der Herr Finanzminister nicht abgeneigt ist, einer Verstaatlichung des Progymnasiums unter solchen Bedingungen näher zu treten, welche den Wünschen der Stadt entsprechen dürften, in der Voraussetzung, daß die Besetzung der Direktorstelle nicht in einer Weise erfolge, welche mit den für Staatsanstalten maßgebenden Grundsätzen nicht in Übereinstimmung stehe.“

Daraufhin wählte das Kuratorium in Jülich den Dr. Wilhelm Emanuel Hoeres zum Leiter des Jülicher Progymnasiums. Noch im selben Jahr, am 29. 10. 1897 gab der Bürgermeister Hochstenbach dem Kuratorium bekannt, dass die Schule zum 01.04.1998 ein »königliches«, das heißt ein »staatliches« Proymnasium werden sollte. Darüber wurde ein am 27.11. 1897 in Jülich und am 01.12.1897 in Koblenz unterschriebener Vertrag geschlossen.

Mit allem Nachdruck versuchte die Stadt nun, beim Provinzial-Schulkollegium in Koblenz und bei der Regierung in Berlin ihren uralten Wunsch, die Erhebung des Progymnasiums zur Vollanstalt mit Abitur durchzusetzen.

Dazu stellen die übergeordneten Verwaltungen erhebliche Bedingungen, vor allem die eines Anbaus an das 1900 und 1901 noch nicht fertige neue Schulgebäude am Neusser Platz in Jülich und die Übernahme aller mit der Erweiterung der Schule zusammenhängenden Kosten. Nach vielen Überlegungen und Beratungen stimmte die Stadt schließlich allen Forderungen zu und ließ Baupläne erstellen, bei denen der Direktor der Schule auch ein Wort mitzureden hatte. Nach dessen „Vorstellungen […] sollte der Anbau 5 Klassenzimmer, davon 4 für je 40 bis 50 Schüler, sowie eine Aula in der Größe von 170 bis 200 qm enthalten.“ Das war sehr weit in die Zukunft gedacht, auch wenn die Schule unter der Leitung von Hoeres in nur vier Jahren von 108 auf 148 Schüler angewachsen war und man bei Erweiterung der Schule zu einer Vollanstalt mit weiterem Zuwachs rechnen durfte, mussten Schüler bei Abschluss des Progymnasiums bisher doch irgendwo in der Nähe ein anderes Gymnasium besuchen, wenn sie das Abitur ablegen wollten. Am 15.03.1901 erteilte das Schulkollegium in Koblenz schließlich die Genehmigung, das Jülicher Gymnasium ab Ostern 1902 als Vollanstalt zu führen und diese mit der Obersekunda (Klasse 11) zu beginnen.

Zu diesem Zeitpunkt war Dr. W. E. Hoeres nicht mehr Schulleiter in Jülich, sondern schon seit dem 06.07.1901 Regierungs- und Schulrat bei der Regierung zu Osnabrück. Schon am 08.05.1906 verzog er dann schon mit seiner Familie nach Koblenz, wo er die Stelle eines Provinzialschulrats beim Provinzialschulkollegium antrat. Damit war er wohl am Ziel seiner Wünsche angekommen und gehörte nun zur Schulaufsichtsbehörde.

Der Lebensweg des Dr. Hoeres führte nach 1901 nicht mehr nach Jülich. In der Personalakte gibt es aber noch einen lesenswerten „Auszug aus dem Bericht des Provinzialschulraths Geheimen Regierungsraths Dr.Deiters vom 11. Juli 1899 über die Revison des Progymnasiums zu Jülich am 22. und 23. Juni d. Js.“, der sich in der Personalakte Hoeres natürlich nur mit dem Schulleiter beschäftigt: „Zur besonderen Vorlage. Mit dem neuen Direktor Dr. Hoeres ist ein frischer guter Geist in die Schule eingezogen. Derselbe vollendet demnächst sein 40 Lebensjahr, ist wissenschaftlich gut ausgerüstet und als Lehrer geschickt und wohl erfahren. Bei seinen Mitarbeitern ist er beliebt und geachtet; er weiß sie richtig zu beurtheilen und methodisch gut anzuleiten.“ Der Revisor berichtet dann noch von einigen Unterrichtsbesuchen bei Hoeres und ist im Grunde voll des Lobes, sodass dieser Revisionsbericht den weiteren Lebenswegs des Jülicher Direktors sicher befördert hat.

Noch in Jülich war ihm am 18.01.1899 „der Rang der Räte 4. Klasse“ verliehen worden. Am 11.06. 1913 „erhielt er den Charakter als Geheimer Regierungsrat“. Am 01.10.1924 trat er mit fünfundsechzig Jahren in den gesetzmäßigen Ruhestand.

Diese überaus glatte und erfolgreiche Laufbahn eines preußischen Beamten im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wurde nur ein einziges Mal für fast ein Jahr getrübt und gestört, als Hoeres im Jahre 1923 im Verlauf des sogenannten »Passiven Widerstands« aus dem Rheinland ausgewiesen wurde. Warum das geschah, wurde nicht vermerkt. Er muss aber den belgischen und französischen Besatzungstruppen unangenehm aufgefallen sein. D.h.: Er muss sich wohl negativ über die Besatzungsmächte geäußert haben, die 1923 das Ruhrgebiet widerrechtlich besetzt hatten, weil sie glaubten, die Deutschen seien ihren Reparationszahlungen nicht nachgekommen. Die Ausweisung dauerte zehn Monate. In der Personalakte heißt es auf S. 243: „Der Oberschulrat beim Provinzialschulkollegium, Geheimer Regierungsrat Dr. Emanuel Hoeres wurde am 6. Juni 1923 aus dem besetzten Gebiet ausgewiesen. Die Ausweisung ist durch Beschluß der Hohen Interalliierten Rheinlandkommission vom 24.April 1924 aufgehoben worden. Nach der in Abschrift beiliegenden staatsministeriellen Urkunde vom 2. Juli 1924 ist dem Dr. Hoeres das Amt eines Oberschulrats bei dem Provinzial-schulkollegium Coblenz wieder übertragen.“

Über die familiären Verhältnisse des Dr. Hoeres finden sich in der Personalakte nur ein paar Zeilen. Dabei wird deutlich, dass Hoeres einer recht gut situierten Familie entstammte. Sein Vater war bis 1881 Kaufmännischer Direktor der »Rheinisch-Nassauischen Bergwerks- und Aktiengesellschaft« und dann in derselben Funktion der »Mechernicher Bergwerke«. Der Vater starb 1893. W.E. Hoeres war verheiratet mit Antonie Kaulhausen (geb. am 10.04.1863), der Tochter eines Gutsbesitzers aus Erkelenz. Sie hatten zwei Kinder. Eine kleine Erweiterung dieser Angaben verdankt der Verfasser dem Niedersächsischen Landesarchiv, Abteilung Osnabrück, wonach die Tochter Maria am 08.12.1889 und der Sohn Joseph am 12.12.1890 geboren wurden. Erstaunlich ist, dass Hoeres in Jülich nicht der von 1843 bis 1914 bestehenden renommierten »Casino-Gesellschaft« und auch keinem anderen Verein angehörte. Möglicherweise liegt das daran, dass er seinen Aufenthalt in Jülich nur für eine kurze Übergangszeit veranschlagt hatte, wie es dann ja auch gekommen ist.

Wilhelm Emanuel Hoeres starb am 26.12.1929.

Dr. P. Nieveler